Interview mit Dr. Bernd Seydel

Gerald Petersen und ich haben letzte Woche ein Seminar zum Thema Einflussverhalten in Saudi-Arabien durchgeführt. Unser Trainerkollege Dr. Bernd Seydel war dort schon mehrere Male und hat eine Reihe von Reiseeindrücken mitgebracht. Geduldig und kompetent hat er all unsere Fragen, die wir im Vorfeld auf das Seminar hatten, beantwortet. Vielen Dank dafür noch einmal.

Aber unsere Fragen sind bei Dr. Seydel lange nicht zu Ende. Zu viel wertvolles Wissen ist in ihm, das wir nun heben wollen. Als ausgewiesener Experte der Erwachsenenbildung, weiß er, wie Erwachsene lernen. Das interessiert uns auch:

Was ist Lernen überhaupt? Wie langfristig ist Lernen angelegt?

Lernen und leben sind eigentlich die gleiche Sache. Lernen ist keine Sonderveranstaltung, die noch zusätzlich zum Leben dazukommt. In einer Hinsicht bedeutet Lernen, sich an Veränderungen anzupassen. Komme ich in eine fremde Stadt, „lerne“ ich die Straßen kennen und wie sie angeordnet sind. Wenn ich das nicht tue, finde ich nicht den Weg ins Hotel zurück. Dann muss ich für mein Nichtlernen bezahlen – zum Beispiel den Taxifahrer.

Lernen ist oft Umlernen, Neulernen. Wenn ich eine Stadt nur als Fußgänger kenne und dann plötzlich ein Auto steuere, werde ich feststellen, dass manche Wege nicht mehr zu benutzen sind, zum Beispiel weil sie für Autos zu schmal oder eine Einbahnstraße sind. Ich muss mich dann neu orientieren, also andere Wege nehmen, die ich dann erst einmal als „Umweg“ erlebe. Dieses Prinzip gilt für geistige Wege genauso wie beispielsweise für Bewegungen. Jeder, der ein Musikinstrument lernt, kennt dieses Gefühl, dass die Finger sich nicht so bewegen, wie ich es eigentlich will. Sie tragen ein anderes Bewegungsmuster in sich, das wie in den Muskeln und Sehnen gespeichert zu sein scheint. Es sind „meine“ Finger und irgendwie doch nicht. Lernen bedeutet dann, die alten Bewegungsmuster durch neue zu ersetzen oder zu ergänzen.

Und was ist dann Lernen in der Schule?

Im Prinzip nichts anderes. Fragt man Kinder, wie der elektrische Strom funktioniert, geben sie – wenn sie Phantasie haben – eine Antwort. Die mag erkenntnistechnisch nicht mit den Kenntnissen der Physiker übereinstimmen. Aber auch die müssen ständig umlernen. Die gegenwärtigen Forschungen zum Higgs-Teilchen zeigen, dass man fürchtete, das sogenannte Standardmodell aufgeben zu müssen. Wenn das der Fall wäre, müsste sich die Physik komplett neu organisieren. Alles Wissen über die Grundlagen der Materie wäre nur noch Scheinwissen. Für mich eine beruhigende Vorstellung.

Was sind die großen Unterschiede im Lernverhalten im Vergleich zu Kindern?

Eigentlich sollte schon die einfache Beobachtung von Kindern zeigen, dass in den verschiedenen Lebensabschnitten Lernen unterschiedlich funktioniert. Bis etwa zum 6. und 7. Lebensjahr lernen Kinder dadurch, dass sie durch andere, zum Beispiel die Eltern, Anregungen bekommen. Die Eltern führen die Kinder in Situationen, die ihnen neu und unbekannt sind. Außerdem lieben es Kinder, die Tätigkeiten ihrer Eltern nachzuspielen. Dabei kommt es nicht auf gleiche Materialien an. Ein Kind „kocht“ etwas, indem es einen kleinen Bauklotz auf einen großen stellt: Fertig ist Herd und Topf.

Ab dem 7. Lebensjahr (ungefähr) lernen Kinder, sich mit von außen vorgegebenen Rahmenbedingungen auseinander zu setzen. Meist sind das die Schule und die organisierten Freizeitbeschäftigungen. Für Kinder ist die Eroberung von „Zeit“ ein gewichtiger Entwicklungsschritt. „In einer Woche“ bedeutet für ein Kleinkind gar nichts. Ein Schulkind muss in einer Woche eine Klassenarbeit schreiben und auf dieses Ereignis hin zum Beispiel lernen, sich also ein Wissen aneignen, das dann abfragbar wird.

Mit der Pubertät entdecken Kinder einen neuen Lernbereich: die Umgestaltung ihrer Umwelt. Was bis dahin mehr oder weniger als beständig erlebt wurde, steht plötzlich zur Disposition. Dazu gehören in erster Linie die Eltern. Sie machen plötzlich alles falsch. Und die Lehrer sowieso. Jetzt wird Lernen zu der Frage: Was hat das mit mir zu tun? Welche Rolle spielt das zu Lernende in meiner Biographie? Wofür brauche ich das? Warum soll ich das überhaupt lernen?

Im Laufe unseres Heranwachsens lernen wir immer wieder neu, nicht nur Neues. Erwachsene müssen häufig lernen, dass sie noch lernen können. Sie halten sich in gewisser Weise für „allwissend“, haben also für das meiste in ihrem Leben eine Erklärung gefunden, mit der sie sich zufriedengeben. Wenn dann ein Seminarleiter daherkommt und ein anderes Erklärungsmuster anbietet, dann ist das nicht nur schön, sondern allzu häufig eine massive Bedrohung.

Was muss man deshalb für Seminare für Erwachsenen beachten und was setzten Sie davon in Ihren Seminaren um?

Lernen für Erwachsene ist für mich grundsätzlich ein freiwilliger Vorgang. Ich kann meine Teilnehmer in einem Seminar einladen, sich auf bestimmte Dinge einzulassen. Ich versuche sehr bewusst, keinerlei Druck zu machen, diese Angebote anzunehmen. Es sind Angebote, die sie überprüfen können, wenn sie das mögen. Sie können sie aber auch gerne ablehnen, modifizieren usw. Daraus folgt, dass ich niemals Übungen oder Spiele mache, bei denen sich die Teilnehmer hereingelegt fühlen könnten. Ich weiß, dass manche Gruppenübungen das missachten. Ein bekanntes Spiel geht z.B. so: Zwei Partner bekommen einen Stadtplan und der eine soll dem anderen einen Weg beschreiben. Leider sind die Pläne nicht identisch, sondern der eine ist spiegelverkehrt oder irgendwie anders. Toll, oder?

Ich versuche, meine Teilnehmer niemals auszutricksen, hereinzulegen oder mit etwas zu konfrontieren, was sie nicht einschätzen können. Die Folge: das Vertrauen wächst, die Ängste verschwinden, Lernen wird möglich.

Probleme mit dieser Art von konfrontationslosem Lernen haben allerdings diejenigen Teilnehmer, die in ihrem eigenen Leben ständig zu tricksen und sich zu verstecken versuchen. Die mögen diese transparente Art des Umgangs nicht.

Wie schaffen es Erwachsene auch langfristig, nach einem Seminar neue Verhaltensweisen (Skills) anzuwenden?

Klare Antwort: Ich weiß es nicht. Ich kann mich nur selbst beim Lernen beobachten. Lernen ist ja kein Programmierprozess, den ich messen kann. Ich kann Lerninhalte abfragen und hoffen, dass diese Inhalte sich nicht mehr verflüchtigen. Aber in Wahrheit weiß jeder, dass dem nicht so ist. Lernen und Gelerntes unterliegen selbst wieder einer ständigen Veränderung. Selbst Erinnerungen verändern sich unbemerkt.

Über den Zusammenhang von lernen – vergessen – wiederholen/wieder-zurück-holen haben wir noch gar nicht gesprochen. Für das Lernen ist das Vergessen eine wichtige Bedingung.

Wenn wir Trainer es schaffen, dass unsere Teilnehmer uns vertrauen, dass wir sie nicht hereinlegen, dann haben diese eine große Chance, etwas für sich zu lernen. Das klingt idealistisch und etwas ungenau, aber damit kann ich leben.
Ansonsten wünsche ich mir, dass meine Teilnehmer nach dem Seminar Mut und Spaß haben, etwas auszuprobieren, etwas zu versuchen, etwas anders zu machen, als sie es bisher getan haben. Das wird nicht in allen Fällen geschehen. Manchmal müssen sie dann für Nichtlernen einen Preis zahlen – was nicht immer nur eine Taxifahrt ist.

Vielen Dank, Herr Dr. Seydel für die tollen Antworten.

Kopfsache Change

Change! Bewegung im KopfChange! – Bewegung im Kopf“ von Constantin Sander (Coach und Marketingberater) beschäftigt sich mit der Frage, wie man sich selbst verändern kann. Es geht hier um Persönlichkeitsentwicklung (nicht oder nur ganz am Rande um Organisationsentwicklung) und da gilt: „Ihr Gehirn wird so, wie Sie es benutzen“.

Es gibt ein großes Angebot an Ratgeberliteratur und Hilfestellungen für Menschen, die sich verändern wollen. Was unternehmen wir nicht alles, um dem Stress zu entkommen oder um unserem idealen Selbst ein Stück näher zu kommen? Aber vieles hilft dabei nur wenig, zum Beispiel:

  • Kausaldenken und lineares Denken sind auf komplexe Systeme nicht anwendbar.
  • Positives Denken ist oberflächlich und kann keine Probleme lösen.
  • Die Dressierung des inneren Schweinehundes führt meistens nicht weiter, da problematische Anteile bekämpft werden („weg von“), bevor Ziele definiert wurden („hin zu“).
  • Ein Motivationstraining ist oft nur sehr kurzfristig wirksam, denn ein nachhaltig wirksamer Impuls kann nur von innen kommen.
  • Zeitmanagement ist oft keine Lösung. Das Gefühl, in der Tretmühle zu stecken, bleibt.

So funktioniert das nicht. Unser Gehirn folgt gerne ausgetretenen Pfaden und wir müssen unsere Natur verstehen und berücksichtigen, wenn wir unsere Persönlichkeit weiterentwickeln wollen.

Constantin Sander beschreibt eine ganze Reihe von wirksameren Modellen und Prinzipien der Veränderung. Die meisten Erkenntnisse in diesem Buch stammmen aus dem Fundus des Neurolinguistischen Programmierens (NLP). Die Schule des NLP hat viele psychologische Erkenntnisse unter dem Gesichtspunkt der Persönlichkeitsentwicklung zusammengetragen und popularisiert. Dieses Wissen wird angereichert durch neurobiologische Befunde und systemische  Überlegungen.

Wenn wir uns auf die Reise begeben, uns selbst zu verändern, dann sollten wir zum Beispiel diese Punkte berücksichtigen:

  • Wir müssen anerkennen, dass unsere mentale Repräsentation der Wirklichkeit nicht die Wirklichkeit ist, sondern andauernd von unserem Gehirn konstruiert wird: Die Landkarte ist nicht das Gebiet.
  • Komplexe Systeme erfordern systemisches Denken. Das bedeutet beispielsweise, dass wir Komplexität erfassen, aber auch reduzieren müssen.
  • Wir lernen nicht durch die Ansammlung von Wissen, sondern durch Erfahrung (deshalb kann ein Buch nicht ein Training ersetzen).
  • Wir sind grundsätzlich zur Einfühlung fähig (Empathie) und auf Kooperation angewiesen. Wir sind keine rationalen Nutzenmaximierer (homo eoconomicus), sondern Gemeinschaftswesen.
  • Wir müssen unsere Emotionen in den Veränderungsprozess einbeziehen. „Gefühle sind wichtig“ (Gerald Hüther). Wie fühlt sich das an? Ist es stimmig?
  • Wir brauchen Ziele, die uns motivieren. Das erfordert eine Klärung der eigenen Werte und Antriebe. Unliebsame Muster zu bekämpfen ist fruchtlos, solange nicht etwas Neues, Besseres an deren Stelle tritt. Achten Sie darauf, Ziele gut zu formulieren!
  • Am Anfang stehen Entscheidungen. Entscheidungen erfordern Kriterien. Auf welcher Basis entscheide ich?
  • Die besten Motivatoren sind nicht Geld und Boni, sondern positive Erfahrungen.
  • Erkennen Sie Ihre persönlichen Ressourcen (Stärken) und nutzen Sie diese!
  • Wenn Sie wissen, was Sie wollen, probieren Sie es aus (im Kopf)!

Sie sind immer auch „Change Manager in eigener Sache“. Constantin Sander beschreibt viele Ansätze, wie Sie Ihren persönlichen Change Prozess erfolgreich und nachhaltig gestalten können. Unser Gehirn ist auf Lernen ausgelegt, nutzen wir es entsprechend!

Lernen

Sieht man in ein vorbeifahrendes Fahrschulauto, sieht man meist einen vor Konzentration verkrampft das Lenkrad erwürgenden Fahrschüler. Würden wir ihm nun in diesem Augenblick auftragen auch noch den richtigen Radiosender einzustellen, die Zieladresse ins Navigationsgerät einzutragen, zu telefonieren oder eine CD zu wechseln, dann wäre der Gute vollends überfordert und ein abgewürgter Motor wäre noch die harmloseste Konsequenz.

Dass er dies alles ohne Probleme in drei Monaten gleichzeitig kann, ist eine fantastische Einrichtung der Mutter Natur und nennt sich Automatisierung. Für eine neue Fertigkeit (Beispiel Autofahren), für die wir noch beim Erlernen ganz viel Aufmerksamkeitskapazität gebraucht haben, brauchen wir später beim Können dieser Fertigkeit nur noch einen Bruchteil davon und wir können uns auf anderes konzentrieren. Alles war schwer bevor es einfach war.

Nur gut für den Fahrschüler, dass er sich in diese doch zunächst unangenehme Situation bringt, in der er von beistehenden Passanten belächelt wird, wenn er vor Aufregung mit Handbremse anfährt und das Auto nach vorne springt und nicht rollt. Das unangenehme Gefühl der Nichtkontrolle verursacht Schweißperlen auf der Stirn, Denkblockaden und Gereiztheit oder Ohnmacht. Kein schöner Moment!

Das ist der Moment, in dem klar wird, ich muss etwas lernen. Es gibt da etwas, dass ich können muss, um mich nicht mehr wie ein Dreijähriger zu fühlen. Beim Aneignen von Kommunikationsfertigkeiten ist der Bedarf nicht immer so offensichtlich. Vielmehr kann man in diesem Bereich, die unangenehmen Situationen umschiffen, in denen Defizite transparent werden. Ich reduziere meine Umwelt auf Situationen, in denen ich mit seit Jahren erprobten Verhalten bestehen kann. Hoffentlich geht dieses erprobte Verhalten über die 25 Businessfloskeln hinaus, die Michael Scott in „The Office“ anwendet. Alle anderen Situationen sind ja auch ein „tough cookie!

Darüber hinaus sind bei der Kommunikation zwei Personen beteiligt. Im Zweifelsfall hat ein Kommunikationsprozess nicht funktioniert, weil der andere nicht zugehört bzw. weil der andere es nicht richtig erklärt hat. Je nachdem, ob man selbst gerade Sender oder Empfänger ist. Die Eindeutigkeit des Selbstnichtkönnens wie beim Erlernen von Autofahren liegt nicht vor. Erklärungsversuche, warum man trotzdem ein toller Kommunikator ist, liegen schnell auf der Hand und reduzieren den selbstempfundenen Bedarf nach besserer Kommunikation.

Es gibt also genügend Wege nicht selbst in die Fahrschüler Unsicherheit und Unsouveränität zu kommen. Ein solches Verhalten reduziert die Wahrscheinlichkeit, neue kommunikative Verhaltensweisen zu erlernen. Gute Soft Skills Semianre müssen hier Inspirationsräume – natürlich auch ohne Gefühl der Unzulänglichkeit – aufbauen, in denen sich die Teilnehmer wiederfinden und motiviert werden. Gute Seminare schaffen es eine Lernatmosphäre zu kreieren, die mit dem Titel von Paul Smith’s tollen Buch beschrieben werden kann: You Can Find Inspiration in Everything: And If You Can’t, Look Again.

Ein Motto, das für unser lebenslanges Lernen ohnehin gelten sollte, damit wir uns auch weiterentwickeln ohne ständig in Situationen zu sein, auf denen uns die Schweißperlen auf der Stirn stehen.