Authentizität – Worte, Werte, Entwicklung

Was verbinden wir mit dem Begriff Authentizität? Nachdem der vorangehende Beitrag die Wahrnehmung und den Wahrnehmungscharakter der Authentizität in den Mittelpunkt stellte, geht es in diesem Beitrag um Worte und Werte. Und Entwicklung.

Das hier vorgestellte Wertequadrat soll noch mehr Klarheit schaffen. Das Wertequadrat ist ein gedankliches Werkzeug, das Paul Helwig (1967) entwickelte und Friedemann Schulz von Thun als Entwicklungsquadrat für die Persönlichkeitsentwicklung nutzbar machte (Miteinander Reden, Band 2, Kapitel II 3).

Die Grundannahme des Wertequadrates ist (Schulz von Thun, ebd.):

Um den dialektisch strukturierten Daseinsanforderungen zu entsprechen, kann jeder Wert (jede Tugend, jedes Leitprinzip, jedes Persönlichkeitsmerkmal) nur dann zu einer konstruktiven Wirkung gelangen, wenn er sich in ausgehaltener Spannung zu einem positiven Gegenwert, einer „Schwestertugend“, befindet.

Werte und Maßstäbe sollen in einer dynamischen Balance gehalten werden. Ohne die Balance verkommt ein positiver Werte zu seiner entwertenden Übertreibung.

Ein Beispiel: Sparsamkeit und Großzügigkeit sind positive Werte, die in Balance zu halten sind. Völlig übertriebene Sparsamkeit ist Geiz (die entsprechende übertreibende Entwertung). Völlig übertriebene Großzügigkeit ist Verschwendung (die entsprechende übertreibende Entwertung).

Das Werkzeug des Wertequadrates wende ich hier an auf das Thema „Authentizität“ (ähnlich bereits von Schulz von Thun dargestellt als Wahrhaftigkeit vs. Wirkungsbewusstsein):

Authentizität Wertequadrat

Sich geben wie man sich fühlt“ können wir assoziieren mit:

  • Eigene Befindlichkeit frei äußern
  • Für sich selbst einstehen
  • Offen und ehrlich kommunizieren

Situationsbewusst und rollengerecht handeln“ können wir assoziieren mit:

  • Beachten wie man auf andere wirkt, Rücksicht nehmen, höflich sein
  • Ziele und Aufgaben beachten, kooperieren
  • Diplomatisches Geschick an den Tag legen

Die orangenen Felder repräsentieren die entwertende Übertreibung der darüber stehenden grünen Felder. Das Feld „Unbeherrschtheit“ können wir assoziieren mit:

  • Rücksichtslos sein, schonungslos offen sein
  • Ungefiltert alles „rauslassen“
  • Egoistisch sein, sich nicht von anderen beeinflussen lassen

Das Feld „Verstellung“ können wir assoziieren mit:

  • Sich verbiegen, nur den Erwartungen der anderen entsprechen wollen
  • Anderen etwas vormachen, schauspielern, sich inszenieren
  • Hinterlistigkeit, Verschlagenheit

Die grünen Felder repräsentieren das positive Spannungsverhältnis, in dem eine Balance wünschenswert ist zwischen „sich geben wie man sich fühlt“ und „situationsbewusst und rollengerecht handeln“. Nicht das nur eine oder nur das andere sollte angestrebt werden, sondern die Balance bzw. die Integration beider Werte (man denke auch an das Spannungsverhältnis Ehrlichkeit vs. Respekt). Wir Menschen haben ein ganzes Arsenal an Kulturtechniken entwickelt, um Authentizität zu regulieren.

Wir wollen mit uns selbst in Einklang stehen (dazu braucht es Selbsterkenntnis). Wir können aber nicht ausschließlich aus uns selbst heraus agieren, sondern sollten die Situation und auch Erwartungen von anderen Menschen „mitfühlen“ (dazu braucht es Empathie und/oder Verstehen). Sich situationsangemessen und rollengerecht zu verhalten ist das Fundament eines friedlichen und kooperativen Zusammenlebens. Damit  werden wir nicht unauthentisch. Doch wenn eine übertreibende Entwertung in Richtung der Unbeherrschtheit oder der ständigen Verstellung stattfindet, sehe ich ein Problem.

Als Titel für das Wertequadrat schlage ich vor: „Authentizität“. Innerhalb des Wertequadrates möchte ich den Begriff „Authentizität“ dabei vermeiden. Ich möchte dazu anregen, zukünftig mit der Verwendung des Begriffes „authentisch“ genauer zu spezifizieren, wo in diesem Wertequadrat der Sprecher sein Verständnis von „Authentizität“ ansiedelt. Wofür genau tritt der Sprecher ein, wogegen wendet er sich genau? Welche Art von Balance hält der Sprecher für wünschenswert? Damit bekommen wir die Klarheit die wir benötigen, um über das Thema Authentizität zu kommunizieren. Ebenso können wir mit dem Wertequadrat konfrontative Statements und Diskussionen durchschauen.

Ich erwähnte, dass Schulz von Thun das Wertequadrat als Entwicklungsquadrat nutzbar macht. Der Begriff „Entwicklungsquadrat“ soll verdeutlichen, dass aus dem Wertequadrat Entwicklungsrichtungen herauszulesen sind – je nachdem, wo man sich selbst in dem Wertequadrat ansiedelt. Wenn zum Beispiel ein Mensch der Meinung ist „ich bin sehr direkt und offen, habe jedoch festgestellt, dass andere sich häufig verletzt fühlen und sich zurückziehen“, dann könnte er als Entwicklungsrichtung für sich wünschen, diplomatischer aufzutreten (Entwicklungsrichtung von links unten nach rechts oben). Wenn ein Mensch der Meinung ist „ich bin so sehr auf die Anerkennung von anderen aus, dass ich mich selbst verleugne“, dann könnte er als Entwicklungsrichtung für sich wünschen, mehr die eigenen Bedürfnissen zu erforschen und danach zu handeln – egal, was die anderen darüber denken (Entwicklungsrichtung von rechts unten nach links oben).

Ich halte das hier vorgestellte Wertequadrat für sehr gut brauchbar, doch ein Wertequadrat ist niemals objektiv absolut richtig. Daher eröffne ich hiermit die Diskussion: Was halten Sie von dem hier dargestellten Wertequadrat? Welche Anregungen geben Sie?

  1. Teil: Authentizität – eine Bestandsaufnahme
  2. Teil: Authentizität – eine Wahrnehmung
  3. Teil: Authentizität – Worte, Werte, Entwicklung

4 Antworten auf „Authentizität – Worte, Werte, Entwicklung“

  1. Das gesellschaftliche Thema „Mangel an Authentizität“ ist massiv begünstigt worden durch den Wegfall einer wichtigen menschlichen Kernkompetenz, die uns kaum noch im Bewusstsein ist: die „Identitätsschaffungs-Kompetenz“, ein für uns moderne Menschen scheinbar bedeutungsloser Begriff. Sie geriet nahezu völlig in Vergessenheit, seit der gesellschaftliche Wandel durch die Industrialisierung den Stellenwert des aus den einstigen beruflichen Ständen hervor gegangenen Identitätsbewusstseins in der menschlichen Werteskala weit hinten angestellt hat.

    Ein Blick in die historischen Zusammenhänge macht das deutlich:

    Mit Beginn menschlicher Zivilisationen entwickelten sich gesellschaftliche Aufgabenteilungen, aus denen die beruflichen Stände hervorgingen. Diese sämtliche Lebensbereiche prägende Form des gesellschaftlichen Lebens brachte die ursprünglichste und kraftvollste Kompetenz hervor, über die wir Menschen verfügen, und die zu einem entscheidenden Erfolgsfaktor menschlicher und gesellschaftlicher Entwicklung in allen Lebens- und Schaffensbereichen wurde: die „Identitätsschaffungs-Kompetenz“.

    Mit der innerhalb von zwei bis drei Generationen einsetzenden industriellen Revolution wurde diesem auf Identität basierenden Leben und Schaffen für Millionen von Menschen ein jähes Ende gesetzt, was zur Folge hatte, dass Menschen seither in kollektivem Ausmaß den Faktor Identität nahezu komplett aus der Reichweite ihres Selbstverständnisses verbannt haben und es nun in anstrengender und versagensanfälliger Weise aus den Ergebnissen des Verhaltens und der Leistung determinieren.

    Keinesfalls zufällig war die Epoche der industriellen Revolution auch die Geburtsstunde der Psychologie, für welche aufgrund der massenhaft auftretenden Identitätskrisen seinerzeit ein enormer Bedarf entstanden war. Die klassische Psychotherapie agiert vorrangig im Kontext der Beseitigung psychischer Störungen, ist zumeist verhaltensfokussiert und daher kaum geeignet, „Identitätsschaffungs-Kompetenz“ zu reaktivieren. Darüber hinaus wird häufig verkannt, dass die so genannten psychischen Störungen nichts anderes sind, als Lösungsstrategien aus früheren Erfahrungsprozessen, die lediglich mit aktuellen Gegebenheiten in Konflikt geraten sind. Menschen lernen mithilfe psychotherapeutischer Maßnahmen in aller Regel, mit den daraus entstandenen Problemen umzugehen, doch das Erschaffen eines kraftvollen Identitätsbewusstseins erfolgt hierbei, wenn überhaupt, nur im langwierigen Prozess des emotionalen Verwertens der dadurch erzielten, mehr oder weniger großen Erfolge und ist damit lediglich eine mögliche Auswirkung anstelle eines Therapieziels.

    Das heute allgegenwärtige Phänomen des kollektiven Fokus auf das TUN (Verhalten, Leistung etc.) und die damit verbundenen, sukzessiv ansteigenden Zahlen von Mobbing, Burn Out, Depression etc. werden zu einem wachsenden Problemfaktor für Wirtschaft und Gesellschaft und machen daher ein modernes und kompetentes Identitätsmanagement unumgänglich.

    Die Erfahrungen mit einem von mir entwickelten und seit 2007 durchgeführten Identitätsmanagement-Trainings belegen eindrucksvoll, dass die Erschließung menschlichen, Erfolgspotenzials mit diesem Ansatz ungleich einfacher und vor allem ungleich schneller möglich ist, als mit den gängigen, aufs Verhalten zielenden Trainings- oder Therapiemethoden. Menschen mit psychosozialen Problemen profitieren hiervon auf beeindruckende Weise ebenso, wie Führungskräfte, die ihr Niveau an Integrität, Authentizität, Führungskultur und Erfolgen insgesamt spürbar anheben wollen.

    Beste Grüße
    Chris Witt
    Diplom Psychologe,
    Certified Leadership Coach,
    Gründungsmitglied der Akademie für neurowissenschaftliches Bildungsmanagement.
    Information: http://www.lifecontext.de

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