In der Fragetechnik sind zwei Hauptarten von Fragen bekannt: die geschlossenen und die offenen. Offene Fragen oder auch W-Fragen (wieso, weshalb, warum …) sind explorativ und führen zu Informationen, die ich vorher nicht habe. Offene Fragen führen zu einem tieferen Verständnis eines Problems. Geschlossene Fragen führen häufig zum Ende einer Diskussion (Haben Sie mich jetzt verstanden?) oder zu einer Vorauswahl (Sind Sie der Entscheidungsträger?). Geschlossene Fragen können sinngerecht nur mit ja oder nein beantwortet werden und helfen ein Gespräch auf wichtige Punkte zu konzentrieren. „Fragen richtig einsetzen“ ist wesentlicher Bestandteil von Kommunikationsseminaren.
Die Fernsehunterhaltung erschuf eine weitere Kategorie von Fragen: Informationsfreie Selbstdarstellungsfragen. Der Fragensteller (der Moderator) beantwortet in einem Monolog die Frage selbst und fragt erst dann den Gast. War das so?
Geglückt aus fragetechnischer Sicht kann man allerdings das Interview von Reinhold Beckmann mit Jan Ullrich nennen. Der hatte am Morgen des gleichen Tages seinen Rücktritt vom aktiven Radsport erklärt. Dopingvorwürfe hinderten ihm im Sommer 2006 bei der Tour d’France zu starten.
Nach anfänglichem Geplänkel legt Beckmann los:
Dann lassen Sie uns mal versuchen einzusteigen. Befürchten Sie, dass die Öffentlichkeit den heutigen Rücktritt als Schuldeingeständnis werten könnte?
Die Fragen sind kurz und er lässt Jan Ulrich reden. Jan Ulrich erwähnt eine Speichelprobe und zack, springt der Tiger Beckmann auf das Thema:
Warum haben Sie die Speichelprobe, Jan, erst so spät abgegeben, warum haben Sie die Speichelprobe nicht unmittelbar (…) abgegeben.
Beckmann zitiert Ulrich und fragt.
Sie haben am 30.6. gesagt, Sie werden Ihre Unschuld beweisen. Danach ist nichts passiert, warum.
Interessante Randnotiz: Ulrich duzt Beckmann, Beckmann siezt Ulrich, sagt aber Jan.
Nachdem Ulrich beteuert, dass er nicht gewusst hätte, wo er die Speichelprobe abgeben soll, dreht Beckmann auf:
Ja, das wissen Sie ganz genau. Das kann nicht der Grund sein.
Das lässt er stehen und lenkt den Fokus auf die Chronologie und zählt alles in einem Filmbeitrag auf: Spanische Antidrogen-Einheit, Fuentes, Ermittlung gegen Ulrich, Blutreserven mit der Aufschrift Jan, Strafanzeige, Staatsanwaltschaft Bonn, außerordentliche Kündigung von T-Mobile, Durchsuchungen von Ulrichs Haus,…
Ulrich ist nun unter Druck, Beckmann bleibt ruhig. Nach Ulrichs Meinung ist die Geschichte so falsch dargestellt. Beckmann bleibt kühl:
Gut, dann fangen wir an die Geschichte so darzustellen, wie es Ihrer Meinung nach richtig ist. Wir haben Zeit genug.
Sein Untertitel ist: Hier ist noch lange nicht Schluss und wir reden nicht über Deinen Frau und nicht über Deine Tochter, sondern über die Dopingsache.
Wieder lässt er Ulrich reden. Ulrich leidet nun sichtlich und benutzt Kraftausdrücke. Wiederholt und hartnäckig fragt Beckmann, „begrüßen Sie es, dass die Speichelprobe nun abgeglichen wird.“ Beckmann ist jetzt ein Terrier. Ulrich ist angeschlagen. Er lässt lange Pausen, sagt häufig „jetzt aber ganz ehrlich“. Im Hintergrund hört man Beckmann „ja“ und „mhm“. Ulrich soll also weiterreden und er leidet und dann wieder ein „mhm“. Ulrich wiederholt, er wolle jetzt auf seine Anwälte hören, und nichts sagen, aber Beckmann schafft es, dass Ulrich weiterredet.
Gelegentlich will Beckmann formulierte Unschärfen von Ulrich genauer Wissen.
Was heißt es, dass es in Spanien ordentlich funktioniert?
Das wirkt wie ein Hieb.
Beckmann führt nun Zeugen an. Ein T-Mobile Pressesprecher hätte ihn mehrfach angewiesen, einen DNA-Schnelltest zu machen, warum sei Ulrich nicht darauf eingegangen. Beckmann führt also weitere „Zeugen“ mit in das Gespräch ein. Hier bleibt Beckmann am Ball, er fragt nach, „hat er ihnen das vorgeschlagen“ und dann macht Beckmann auf unverständlich:
Das wäre doch ein Befreiungsschlag für Sie gewesen. Ich habe nicht gedopt, ich kann einen Speicheltest abliefern (…) Hätten Sie das gemacht, wäre das ein Befreiungsschlag gewesen.
Dann spielt er den lieben Onkel und unterbricht ein Abwehrversuch von Ulrich mit:
Wir versuchen, es ja zu verstehen, warum sie sich nicht selbst befreit haben.
Beckmann lädt Ulrich ein, sich in andere hineinzuversetzen und lockt ihn so aus seiner Defensive.
Aber Jan, können Sie nachvollziehen, dass der Eindruck der an Indizien draußen da ist für den neutralen Beobachter so ist, dass es einen Kontakt gegeben haben muss.
Und jetzt fühlt sich Beckmann richtig sicher und holt noch mal zu einer Zwischencharme-Offensive aus:
Im Grunde genommen sind wir da, Jan, auch Fans. Wir haben alle da vor der Glotze gesessen, am Straßenrand, und haben gedacht, Mensch, was für ein außergewöhnlicher Sportler, was für ein Jahrhunderttalent.
Ulrich nickt. Leider reine Ablenkung, Jan. Beckmann verbindet Wahrheit und Fans, um dann seine Frage zu stellen:
Die Fans sagen, der soll uns doch die Wahrheit sagen, dafür lieben wir ihn doch. Sind Sie Ihren Fans das nicht schuldig?
Beckmann zitiert also Ulrich selbst, zitiert Zeugen, listet alle Anschuldigungen auf, lässt einen Dopingexperten sprechen, bietet sich als Helfer Ulrichs an und argumentiert aus Sichtweise der Fans. All das bringt Ulrich sichtlich unter Druck. Er leidet. Oder wie es Juan Moreno in der Süddeutschen formulierte:
Vor allem ist Jan Ulrich aber jemand, der am Montag gelernt haben dürfte, dass man keinen Berg braucht, um sich zu quälen, dass es weh tut. Manchmal reichen auch ein Fernsehstudio, 75 Minuten Zeit und Reinhold Beckmann.