Die Autoren des Harvard-Konzeptes sprechen von „Interessen“: Man solle sich „auf Interessen konzentrieren, nicht auf Positionen“. Der Begriff „Bedürfnisse“ scheint mir allerdings passender. Denn gemeint sind die Beweggründe oder Motive, die hinter einer Verhandlungsposition stehen. Es geht um die Frage: Warum? Warum möchte der eine Verhandlungspartner dieses oder jenes? Berühmt geworden ist das Beispiel mit der Orange, das dieses Prinzip verdeutlicht: Zwei Schwestern streiten sich um eine Orange. Die Lösung scheint einfach: Die Orange wird in der Mitte geteilt. Eine der Schwestern presst das Fruchtfleisch aus für einen Saft, und wirft die Schale weg. Die andere verwendet die Schale für einen Kuchen, und wirft das Fruchtfleisch weg. Dumm gelaufen!
Es kommt also darauf an, Positionen und Bedürfnisse zu unterscheiden und „hinter“ die Positionen zu schauen. Ein reales Beispiel aus der Politik: Israel und Ägypten verhandeln 1978 im Camp David über die Bedingungen für einen Frieden zwischen beiden Ländern. Israel (Begin) will unbedingt Teile des im Sechstagekrieg eroberten Sinai behalten, Ägypten (Sadat) will unbedingt den ganzen Sinai zurück. Diese Positionen sind unvereinbar. Wenn nur diese Positionen verhandelt werden, ist klar, dass die Verhandlung scheitern muss. Eine Lösung wurde möglich, indem sich die Verhandler auf die Bedürfnisse der Verhandlungsparteien konzentrierten: Ägypten wollte (nach einer Geschichte der Fremdherrschaft und des Kolonialismus) seine volle Souveränität bewahren. Israel wollte sichere Grenzen. Das Ergebnis: Der gesamte Sinai wurde in die Souveränität Ägyptens zurückgegeben, jedoch wurde der Sinai entmilitarisiert. Dieses Abkommen beendete den langandauernden Kriegszustand zwischen beiden Ländern.
Versetzen Sie sich doch einmal in die Lage der anderen Partei und fragen Sie „Warum?“. Vermeintlich irrationales Verhalten der anderen wird vielleicht plötzlich ganz verständlich.
Wir können leicht den Eindruck gewinnen, es gehe immer und überall ausschließlich um Geld. Und dabei übersehen wir leicht, welche Bedürfnisse die Menschen antreiben. Zum Beispiel, Herr Meier fordert eine Gehaltserhöhung. Ok, er bringt überdurchschnittliche Leistung, aber ich kann nicht „ja“ sagen, denn das Budget ist nicht da, um seine Forderung zu erfüllen. Und sage ich „nein“, riskiere ich, dass er unzufrieden wird oder sich gleich eine neue Stelle sucht (und das bei dem heutigen Fachkräftemangel). Nun, warum will er eine Gehaltserhöhung, worum geht es ihm? Um Status? Dann könnte ein Dienstwagen das Richtige sein. Um Weiterentwicklung? Dann könnte eine Weiterbildung das Richtige sein. Um Sicherheit? Dann könnte eine betriebliche Altersvorsorge das Richtige sein. Etc.
Einwurf: „Aber das kostet doch auch Geld!“. Nun, nicht unbedingt, aber natürlich kann das Argument zutreffen. Manche Lösungen kosten auch Geld. Jedoch bei geschicktem Einsatz viel weniger als die Erfüllung der ursprünglichen Forderung, und sehr viel weniger als eine gescheiterte Verhandlung! Es lohnt sich demnach, sich für die Bedürfnisse der anderen zu interessieren.
Die Beiträge dieser Serie im Überblick:
Verhandeln oder feilschen?
Hart verhandeln oder weich verhandeln?
Sachbezogenes Verhandeln
Beim Verhandeln Menschen und Probleme trennen
Beim Verhandeln auf Bedürfnisse konzentrieren
Beim Verhandeln objektive Kriterien anwenden
Kritik am Harvard-Konzept