Authentizität – eine Bestandsaufnahme

Die Diskussion um die Authentizität geht weiter. Dorothee Echter (Beraterin für Führungspersönlichkeiten) meint im Harvard Business manager Blog:

Topmanager müssen nicht authentisch sein

Ähnliches schrieb schon Rainer Niermeyer in seinem Buch „Mythos Authentizität“. Wir können nicht und wir sollten nicht in jeder Situation authentisch sein im Sinne von ungefiltert und ausschließlich ichbezogen. Sondern wir übernehmen Rollen, die auch situativ und sozial sind.

Wolfgang Griepentrog schreibt, man dürfe nicht „authentisch“ mit „unbeherrscht“ gleichsetzen. Führungskräfte sollten sehr wohl authentisch sein (Müssen Top-Manager authentisch sein?).

Für Roland Kopp-Wichmann (Müssen Führungskräfte authentisch sein?) ist die einzige Alternative zur Authentizität die Selbstentfremdung. Einerseits weist er die „selektive Authentizität“ (Dorothee Echter) zurück, andererseit plädiert er dafür, „Gefühle in sich (zu) regulieren und angemessen kommunizieren”. Ich plädiere ebenfalls dafür, Gefühle in sich zu regulieren und angemessen zu kommunizieren, doch ich frage mich: Was genau ist der Unterschied zur selektiven Authentizität?

Es wurde auch bereits vorgeschlagen, weniger authentisch zu sein, dafür aber kongruent (Mal echt jetzt: Kongruenz als Alternative zur Authentizität).

Authentizität bedeutet, sich selbst und den eigenen Prinzipien treu zu sein. Soweit werden wohl so ziemlich alle zustimmen. Keiner der genannten Diskutanten hat sich jemals gegen Authentizität an sich ausgesprochen. Allerdings ist entweder der Begriff der Authentizität unklar und/oder es werden unter dem Begriff „Authentizität“ unterschiedliche Konzepte verstanden.

Was bedeutet überhaupt Authentizität? Wann fühlen wir uns authentisch? Die Sozialpsychologen Michael Kernis und Brian Goldman unterscheiden vier Kriterien, die erfüllt sein müssen, damit man sich selbst als authentisch erlebt (Wikidedia):

  • Bewusstsein – Ein authentischer Mensch kennt seine Stärken und Schwächen ebenso wie seine Gefühle und Motive für bestimmte Verhaltensweisen. Erst durch diese Selbstreflektion ist er in der Lage, sein Handeln bewusst zu erleben und zu beeinflussen.
  • Ehrlichkeit – Hierzu gehört, der realen Umgebung ins Auge zu blicken und auch unangenehme Rückmeldungen zu akzeptieren.
  • Konsequenz – Ein authentischer Mensch handelt nach seinen Werten. Das gilt für die gesetzten Prioritäten und auch für den Fall, dass er sich dadurch Nachteile einhandelt. Kaum etwas wirkt verlogener und unechter als ein Opportunist.
  • Aufrichtigkeit – Authentizität beinhaltet die Bereitschaft, seine negativen Seiten nicht zu verleugnen.

Die Frage ist, ob sich die Diskutanten auf diese Kriterien einigen könnten. Oben verlinkte Beiträge und Kommentare legen nahe, dass diese Einigkeit nicht besteht, und ein jeder Authentizität in seinem Sinne interpretiert. Ich gehe davon aus, dass ein semantisches Problem besteht und das wir mehr Klarheit benötigen, bevor wir inhaltliche Unterschiede kompetent diskutieren können. Diejenigen, die behaupten, Führungskräfte bräuchten nicht (immer) authentisch sein, haben eine Vorstellung von Authentizität, die sich von der Vorstellung ihrer „Gegner“ möglicherweise gar nicht so grundsätzlich unterscheidet. Und ich habe den Eindruck, die Abwehr der Authentizitätsapostel (sorry, aber da alle für Authentizität sind, muss ich diese Gruppe schon etwas deutlicher kennzeichnen) rührt daher,  dass selbst eine kleine Einschränkung einer allumfassenden Authentizitätsforderung bereits als Verrat an dem Wert der Authentizität gesehen wird. Die einen hinterfragen das simple Sei-einfach-nur-authentisch und die anderen sehen die Authentizität generell in Frage gestellt (und zwar zugunsten eines als manipulativ verstandenen berechnenden Verhaltens).

Ich meine, wir sollten uns der Komplexität des Spannungsfeldes Authentizität bewusster werden. Wir können zur Kenntnis nehmen:

  • In einer Diskussion ist keineswegs immer klar, was von den Diskutanten unter Authentizität verstanden wird.
  • Authentizität ist häufig inszeniert. Beispiel: Gregor Gysi demonstriert in Gorleben auf einem Traktor sitzend. Authentisch, könnte man denken (vielleicht einige seiner Anhänger). Und dann erfahren wir, dass, während er auf dem Traktor sitzt, Polizisten seine Dienstlimousine bewachen. Selbst seine Sympathisanten fragen sich jetzt: Ist das authentisch? Aber nicht nur Politiker inszenieren sich als authentisch: Denken Sie mal an das ganze Dating-Gebahren.
  • Das Bemühen um Authentizität wird zur Marketing-Lüge (erfundene Gründungsmythen von Firmen, Ist „Authentizität vortäuschen“ eine besonders perfide Form der Täuschung?).
  • Eine authenthisch jähzornige und übellaunige Angelina Jolie kann ziemlich unausstehlich sein.
  • Authentizität dient so manchen als Rechtfertigung für das eigene unbeherrschte Verhalten („Wieso? – Ich bin eben authentisch! Das musst du gefälligst akzeptieren, oder bist du etwa gegen Authentizität?!“).
  • Häufig wollen die anderen bestimmen, wie man „richtig“ authentisch zu sein habe. Siehe Stellungnahme von Helene Hegemann: „das Problem … besteht in der Tatsache, dass ich nicht der gängigen Vorstellung eines »authentischen Jugendlichen« entspreche“. Oder die Kritik an Katharina Saalfrank: „Im Gegensatz zum Kollegen Peter Zwegat fehlt es ihr an Authentizität“.
  • Der Wettbewerb um Authentizität führt zu einem absurden Selbst-Marketing. Charlotte Roche brüstet sich, ihr Buch „Feuchtgebiete“ sei zu „70 Prozent autobiografisch“. Hannelore Kraft im Wahlkampf zur Landtagswahl in NRW: „Mein Trumpf ist es, dass ich authentisch bin“.

Der Kult um die Authentizität wird heute besonders intensiv betrieben und führt zu diversen Facetten der Nicht-Authentizität. Authentizität ist oft nur behauptet. Ich halte es da lieber mit Margaret Thatcher: „Being powerful is like being a lady. If you have to tell people you are, you aren’t”. Wenn du anderen auf die Nase binden musst, dass du authentisch bist – dann bist du es nicht. Authentizität ist oft inszeniert. Gelingt die Inszenierung, entsteht der Eindruck von Authentizität.

Authentizität ist auch nicht per se nur immer gut. Wir können uns zum Beispiel einen Mafiosi vorstellen, der rohe Gewalt ausübt und sich dabei völlig im Einklang mit sich und seinen Werten – also authentisch – fühlt. Ebenso können wir uns einen Manager vorstellen, der betrügt, und das tut im Einklang mit seinem Selbstbild als smarter Trickser. Etwas weniger dramatisch aber dennoch nervend ist der Fall des ungehobelten Menschen, der andere mit seiner Art fortwährend vor den Kopf stösst und dabei behauptet „ich bin nur ehrlich“. Oder ein Service-Mitarbeiter, der mehr schlechte Laune verbreitet als guten Service zu liefern und sagt „so fühle ich mich nun einmal“. Oder eine cholerische Führungskraft, die versichert, einen „authentischen Führungsstil“ zu pflegen. Es kommt demnach nicht darauf an, einfach authentisch „zu sein“, sondern auf das Was und Wie.

Selbst diejenigen, die glauben, sich in jeder Situation völlig authentisch zu verhalten, spielen teilweise auch Rollen – ob ihnen das bewusst ist oder nicht. Das ist nichts anderes als soziales Verhalten. Wir können nicht so tun, als würden wir uns in keiner Weise beeinflussen lassen durch andere – diese Beeinflussung findet immer statt. Ein Aspekt der Authentizität ist ja gerade, „der realen Umgebung ins Auge zu blicken“. Und diejenigen, die allzu simple oder allzu umfassende Authentizitätsforderungen in Frage stellen, wollen nicht unauthentisch sein, sondern suchen ein Gleichgewicht zwischen Selbstbezug und situativer Rolle.

Menschen neigen dazu, ihr Selbstbild an den gerade vorherrschenden Idealen zu orientieren. Ein Ideal unserer Zeit (das war nicht immer so) ist Authentizität. Aber mit einem „sei einfach authentisch“ ist es nicht getan. Das ist zu kurz gesprungen, viel zu kurz. Abschliessend fasse ich einige wichtige Punkte zusammen:

  • Authentizität bedeutet, sich selbst treu zu sein (Minimaldefintion)
  • Authentizität erfordert ein hohes Maß an Selbsterkenntnis
  • Authentizität ist nicht per se immer gut, sondern es kommt auf die Werte und die Umstände an
  • Authentizität darf nicht als Rechtfertigung für Unbeherrschtheit gelten
  • Authentizität wird oft behauptet oder inszeniert
  • Wer sich rollengerecht und situationsbewußt verhält, ist deswegen nicht unauthentisch
  • Wenn wir eigene Werte und Verhalten in Einklang bringen – dann können wir uns authentisch fühlen

Ich habe vor, die nächsten beiden Beiträge ebenfalls dem Thema Authentizität zu widmen. Ich werde ganz konkrete Vorschläge machen, wie wir in Zukunft klarer über Authentizität kommunizieren können.

  1. Teil: Authentizität – eine Bestandsaufnahme
  2. Teil: Authentizität – eine Wahrnehmung (hier schaffe ich mehr Klarheit über den Wahrnehmungscharakter der Authentizität)
  3. Teil: Authentizität – Worte, Werte, Entwicklung (hier schaffe ich mit Hilfe des Wertequadrates mehr Klarheit über die im Bezug zur Authentizität stehenden Werte)

Respekt!

Wall of Respect by EVIE1013 (cc)Wenn es um Spielregeln für das gemeinsame Arbeiten geht, dann stehen zwei Werte hoch im Kurs: Ehrlichkeit und Respekt. Die meisten Menschen werden wohl zustimmen, dass die Kommunikation ehrlich und der Umgang miteinander respektvoll sein sollte. Also können wir uns schnell darauf einigen und schreiben das schön in unser Unternehmensleitbild oder Führungsleitbild.

Jedoch, wenn es konkret wird, kann hier ein Dilemma entstehen. Wie kann ich ehrlich sein und gleichzeitig respektvoll, wenn z.B. jemand etwas sagt und ich denke „das ist doch völliger Blödsinn“. Es kommt mir dieser Gedanke, es ist einfach so. Nun was? Welche Möglichkeiten habe ich?

1. Ich platze damit heraus und sage „das ist doch völliger Blödsinn!“. Viele Manager reden so, und das mag stark klingen, ist es aber nicht. „Dieser Report ist Schwachsinn!“, „das ist eine idiotische Idee!“, „das war Scheiße!“ (allenfalls bei DSDS Dieter Bohlen ist das unterhaltsam). Diese markigen Worte sind scheinbar ehrlich und geradeheraus, aber sicher nicht respektvoll. Diese Reaktion wird unweigerlich zum offenen oder verdeckten Konflikt führen. Ein produktiver Verlauf des Meetings ist wenig wahrscheinlich, nachdem jemand so etwas gesagt hat. Und weiterhin: Es ist noch nicht einmal ehrlich. Wenn ich einfach sage, was mir in den Sinn kommt („das ist Blödsinn!“), dann ist das *nicht* wirklich ehrlich. Denn es ist eine Meinung, kein Fakt. Um eine wirklich ehrliche Aussage zu machen, benötigt es mehr Fertigkeiten.

2. Ich schweige. Oder, das ist ähnlich, ich sage etwas, was ich nicht wirklich meine, z.B. „hmhm, klingt durchaus interessant“. Dann bin ich „respektvoll“. Damit stoße ich niemanden vor den Kopf. Aber ich bin ja nicht wirklich ehrlich; ich sage nicht, was ich denke. Und das ist möglicherweise ein Problem für die Teameffektivität, z.B. weil andere annehmen, ich stimme zu, obwohl ich das nicht tue. Und weiterhin: Ich bin auch *nicht* wirklich respektvoll, weil ich die nötige Auseinandersetzung vermeide.

Beide Möglichkeiten sind sehr häufig zu beobachten. Aber der Punkt ist: Wenn wir uns bemühen, ehrlich *und* respektvoll zu kommunizieren, dann kommen diese beiden Möglichkeiten nicht in Frage.

Damit sind wir bei Möglichkeit Nummer 3. Ich bringe zum Ausdruck, was mich stört, ohne andere respektlos zu behandeln. Das erfordert mehr Fertigkeiten als die Möglichkeiten 1 und 2. Zum Ausgangspunkt: Es äußert jemand eine Idee und ich denke „Blödsinn!“. Dann könnte ich beispielsweise sagen „dieser Vorschlag gefällt mir nicht… Ich erwarte stattdessen…“ (energisches Durchsetzen-Statement) oder „dieser Vorschlag hat aus meiner Sicht folgende Nachteile… Ich habe eine andere Idee…“ (sachliches Überzeugen-Statement). Ich vertrete also ehrlich die eigene Position und beziehe Stellung. Gleichzeitig behandle ich meine(n) Gesprächspartner respektvoll. Das nennen wir „positiv beeinflussen“: Die eigenen Ziele vertreten und gleichzeitig die Beziehung stärken.