Authentizität – eine Wahrnehmung

Bei der Authentizität geht es um:

  1. Wahrnehmung (Von wem wird was wahrgenommen? Wer entscheidet, was authentisch ist?)
  2. Worte (Was verbinden wir mit dem Begriff Authentizität?)
  3. Werte (Welche Werte spielen im Spannungsfeld der Authentizität eine Rolle? Welche Werte sollen wir anstreben zu verwirklichen?)

Diese Ebenen müssen wir lernen auseinander zu halten. In diesem Beitrag geht es um den Wahrnehmungscharakter der Authentizität: Handelt es sich bei „Authentizität“ um eine subjektive Wahrnehmung bzw. Selbstbeschreibung des eigenen Ichs (im Sinne von „ich fühle mich authentisch“) oder handelt es sich um eine Wahrnehmung bzw. Zuschreibung von anderen (im Sinne von „du wirkst auf mich authentisch“)?

Authentizität wird von uns als positiv erlebt. Wenn wir uns authentisch fühlen, dann empfinden wir das als angenehm. Wir wir uns selbst sehen und fühlen, ist die eine Seite. Die andere Seite besteht darin, wie wir von anderen wahrgenommen werden (Wikipedia):

Eine als authentisch bezeichnete Person wirkt besonders „echt“, das heißt sie vermittelt ein Bild von sich, das beim Betrachter als real, urwüchsig, unverbogen, ungekünstelt wahrgenommen wird. Dabei muss es sich nicht notwendigerweise nur um die realen Eigenschaften des Betrachteten handeln, sondern es können auch Zuschreibungen von Betrachtern diese Eindrücke verursachen und als Teil einer gelungenen Inszenierung fungieren. Ist die Inszenierung übertrieben, wirkt sie schnell klischeehaft und wird zum Kitsch.

Wir schätzen es, wenn andere authentisch wirken. Das macht andere für uns auch zuverlässiger berechenbar – das Vertrauen wird gefördert. Und das ist wohl auch der Grund, warum Authentizität so gerne behauptet oder inszeniert wird.

Wir können nun Eigenwahrnehmung und Fremdwahrnehmung kombinieren in ein 4-Felder-Schema. Es gibt vier unterschiedliche Möglichkeiten, eine Situation bzw. eine Wahrnehmung von Authentizität zu klassifizieren:

  1. Ich fühle mich authentisch und wirke authentisch. Selbstwahrnehmung und Fremdwahrnehmung stimmen überein.
  2. Ich fühle mich nicht authentisch, wirke jedoch auf andere authentisch. Selbstwahrnehmung und Fremdwahrnehmung stimmen nicht überein. Mir ist das zum Beispiel einmal in einer Supervisions-Situation passiert, dass ich gerade in einer Situation als sehr authentisch wahrgenommen wurde, in der ich mich selbst ausgerechnet gar nicht so authentisch gefühlt habe. Selbst wenn Sie so eine Situation noch nicht bewusst erlebt haben, müssen Sie anerkennen, dass diese Möglichkeit besteht. Denken Sie zum Beispiel an Politiker, die sich ganz gezielt so inszenieren, dass sie von möglichst vielen als „authentisch“ wahrgenommen werden (so ein Politiker denkt sich vielleicht „wenn ich hier eine gute Show abliefere, gelte ich als volksnah“ und genauso funktioniert es auch). Oder denken Sie an die unzähligen Karriere-Ratgeber, die Ihnen Hinweise geben, wie Sie sich verstellen können und mit „Impression Management“ anderen ein echt wirkendes positives Bild abgeben.
  3. Ich fühle mich authentisch, wirke jedoch nicht authentisch. Selbstwahrnehmung und Fremdwahrnehmung stimmen nicht überein. Dass wir uns authentisch fühlen, bedeutet nicht automatisch, dass wir auch genauso auf alle anderen wirken. Nehmen wir als Beispiel wieder Politiker: Selbst wenn Politiker sich in einer Situation authentisch fühlen (das müssen wir ihnen schon zugestehen, dass das vorkommen kann), gibt es mit Sicherheit Menschen und Medien, die darin „Berechnung“ sehen („das macht der nur, weil es seiner Karriere dient“). Oder stellen Sie sich jemand vor, der „positives Denken“ praktiziert und sich eine Scheinwelt aufbaut, in der er sich gut eingerichtet hat, während andere die Verdrängung durchaus wahrnehmen, somit denjenigen als nicht authentisch empfinden.
  4. Ich fühle mich nicht authentisch und wirke auch nicht authentisch. Selbstwahrnehmung und Fremdwahrnehmung stimmen überein.

Ich möchte anmerken, dass es sich bei der „Wahrnehmung“ streng genommen eher um Interpretation als um Wahrnehmung handelt. Im Sinne der (von mir so vermuteten) leichteren Verständlichkeit bzw. intuitiven Zugänglichkeit spreche ich hier dennoch von Wahrnehmung, auch wenn diese bereits mit der Interpretation verbunden ist.

Bei Verwendung des Begriffes der Authentizität müssen wir unterscheiden, ob es eine Selbstbeschreibung oder eine Fremdwahrnehmung ist. Ich schlage vor, in Zukunft Formulierungen wie „authentisch sein“ oder „ich bin authentisch“ aus dem Sprachgebrauch zu streichen und auf die Verwendung solcher ungenauen bzw. verschleiernden Formulierungen zu verzichten (es sei denn, man möchte den anderen verwirren). Ich schlage vor, in Zukunft den Wahrnehmungscharakter der Authentizität transparent zu machen, also zum Beispiel zu sagen „ich fühle mich authentisch“ oder „du wirkst auf mich authentisch“. Am besten, mit Bezug zu einer bestimmten Situation, also „ich fühle mich dann authentisch, wenn ich…“ oder „ich erlebe dich authentisch, wenn du…“. Solche Aussagen sind viel klarer und werden das gegenseitige Verständnis fördern.

  1. Teil: Authentizität – eine Bestandsaufnahme
  2. Teil: Authentizität – eine Wahrnehmung
  3. Teil: Authentizität – Worte, Werte, Entwicklung

Bob Dylans Charisma

Chronicles Volume one Kommunikation beginnt mit der Wahrnehmung. Zunächst muss ich meine Umwelt oder den Gesprächspartner verstehen, um dann kommunikativ auf sie oder ihn einzuwirken. Auch das, was sich hinter dem „schillernden Begriff“ Charisma verbirgt, beginnt mit der Wahrnehmung. Richard Wiseman, Professor an der Universität Hertfordshire, stellte fest, dass charismatische Persönlichkeiten Emotionen äußerst stark empfinden, also ausgeprägte Antennen für unseren Gefühlsbereich haben und in menschlich-emotionale Bereiche vordringen, wo andere Personen bereits lange halt gemacht haben.

Dem vor kurzem veröffentlichten Spiegelartikel zu Charisma, war zu entnehmen, dass sich Charismatiker besonders stark für Themen oder Projekte begeistern und faszinieren können. Beide Aspekte des Charismas, sowohl ausgeprägte Gefühle als auch die Begeisterungsfähigkeit, wurden äußerst eindrucksvoll von Bob Dylan in seinen Chronicals dargestellt. Er veranschaulicht mit seiner eigenen Sprache, was er empfunden hat als er zum ersten Mal Woodie Guthrie, einen amerikanischen Liedermacher, gehört hatte:

Ich fühlte mich, als habe der Plattenspieler mich selbst gepackt und mich quer durch das Zimmer geschleudert. Ich achtete auch auf die Aussprache von Guthrie. Wenn ihm danach war, legte er die Betonung auf die letzten Buchstaben eines Wortes und das saß wie ein Hieb.

Der letzte Satz macht deutlich, wie fokussiert und exakt Dylan die Songs Guthries wahrnahm, wie fein seine Rezeptoren waren. Wahrnehmungsfähigkeit macht den Unterschied zu Menschen, die nicht Bob Dylan sind.

Woodie Guthrie walzte alles nieder, was ihm in den Weg stellte. Für mich war das eine Offenbarung, wie ein schwerer Anker, der gerade in das Hafenbecken gestürzt war.

Dylan entwickelt also Emotionen zu Liedgut, bei dem andere „ganz nett“ oder „langweilig“ gesagt hätten. Erst die ausgeprägte Wahrnehmung lässt ihn ausgeprägt empfinden.

Es war als wäre ich im Dunklen gesessen und irgendjemand hat den Hauptschalter des Blitzableiters umgelegt.

Künstler wie Dylan schaffen es auch ihre eigene Begeisterung wiederum in Worte oder Musik zu packen. Sie schaffen es einen neuen Glanz in die Welt zu bringen, weil sie Charisma haben. Sie schaffen es in den Extremen zu empfinden und sie schaffen es diese Gefühlsbereiche so wieder zu kommunizieren, dass ihre Musik auch nach über 40 Jahren noch zahlreiche Hörer findet.

Gloria Beck, die bereits hier häufiger zitierte Autorin des fraglichen Buches „Verbotene Rhetorik“ ist da anderer Meinung:

Charismatische Personen müssen nicht selbst stark empfinden, es reicht, wenn sie es aussehen lassen als ob. Allerdings schließt eigene Gefühlskälte nicht aus, in anderen starke Gefühle erregen zu können. Je berechnender man agiert, umso vorhersehbarer lassen sich Emotionen in anderen hervorrufen.

Ich halte diese Aussage für groben Unsinn. Vereinzelt wird es tatsächlich ein paar Clowns geben, die glauben als großer Zampano auftreten zu können ohne Substanz und Lebensenergie zu haben, aber über kurz oder lang werden sie entlarvt. Das was menschliches Verhalten lebens- und liebenswert macht ist das authentische, echte Leben, und kein ständiger Komödiantenstadtl, in dem man nur Laiendarsteller seines eigenen Lebens ist.