Bob Dylans Charisma

Chronicles Volume one Kommunikation beginnt mit der Wahrnehmung. Zunächst muss ich meine Umwelt oder den Gesprächspartner verstehen, um dann kommunikativ auf sie oder ihn einzuwirken. Auch das, was sich hinter dem „schillernden Begriff“ Charisma verbirgt, beginnt mit der Wahrnehmung. Richard Wiseman, Professor an der Universität Hertfordshire, stellte fest, dass charismatische Persönlichkeiten Emotionen äußerst stark empfinden, also ausgeprägte Antennen für unseren Gefühlsbereich haben und in menschlich-emotionale Bereiche vordringen, wo andere Personen bereits lange halt gemacht haben.

Dem vor kurzem veröffentlichten Spiegelartikel zu Charisma, war zu entnehmen, dass sich Charismatiker besonders stark für Themen oder Projekte begeistern und faszinieren können. Beide Aspekte des Charismas, sowohl ausgeprägte Gefühle als auch die Begeisterungsfähigkeit, wurden äußerst eindrucksvoll von Bob Dylan in seinen Chronicals dargestellt. Er veranschaulicht mit seiner eigenen Sprache, was er empfunden hat als er zum ersten Mal Woodie Guthrie, einen amerikanischen Liedermacher, gehört hatte:

Ich fühlte mich, als habe der Plattenspieler mich selbst gepackt und mich quer durch das Zimmer geschleudert. Ich achtete auch auf die Aussprache von Guthrie. Wenn ihm danach war, legte er die Betonung auf die letzten Buchstaben eines Wortes und das saß wie ein Hieb.

Der letzte Satz macht deutlich, wie fokussiert und exakt Dylan die Songs Guthries wahrnahm, wie fein seine Rezeptoren waren. Wahrnehmungsfähigkeit macht den Unterschied zu Menschen, die nicht Bob Dylan sind.

Woodie Guthrie walzte alles nieder, was ihm in den Weg stellte. Für mich war das eine Offenbarung, wie ein schwerer Anker, der gerade in das Hafenbecken gestürzt war.

Dylan entwickelt also Emotionen zu Liedgut, bei dem andere „ganz nett“ oder „langweilig“ gesagt hätten. Erst die ausgeprägte Wahrnehmung lässt ihn ausgeprägt empfinden.

Es war als wäre ich im Dunklen gesessen und irgendjemand hat den Hauptschalter des Blitzableiters umgelegt.

Künstler wie Dylan schaffen es auch ihre eigene Begeisterung wiederum in Worte oder Musik zu packen. Sie schaffen es einen neuen Glanz in die Welt zu bringen, weil sie Charisma haben. Sie schaffen es in den Extremen zu empfinden und sie schaffen es diese Gefühlsbereiche so wieder zu kommunizieren, dass ihre Musik auch nach über 40 Jahren noch zahlreiche Hörer findet.

Gloria Beck, die bereits hier häufiger zitierte Autorin des fraglichen Buches „Verbotene Rhetorik“ ist da anderer Meinung:

Charismatische Personen müssen nicht selbst stark empfinden, es reicht, wenn sie es aussehen lassen als ob. Allerdings schließt eigene Gefühlskälte nicht aus, in anderen starke Gefühle erregen zu können. Je berechnender man agiert, umso vorhersehbarer lassen sich Emotionen in anderen hervorrufen.

Ich halte diese Aussage für groben Unsinn. Vereinzelt wird es tatsächlich ein paar Clowns geben, die glauben als großer Zampano auftreten zu können ohne Substanz und Lebensenergie zu haben, aber über kurz oder lang werden sie entlarvt. Das was menschliches Verhalten lebens- und liebenswert macht ist das authentische, echte Leben, und kein ständiger Komödiantenstadtl, in dem man nur Laiendarsteller seines eigenen Lebens ist.

Eine Antwort auf „Bob Dylans Charisma“

  1. Lieber Jens,

    zunächst wieder meinen besten Dank dafür, dass Sie die Chuzpe haben, in einem dezidierten Business-Blog eher abseitige Themen wie heute die charismatischen Grundlagen des Rock’n’Roll und Pop zu behandeln. Es freut mich, dass auf diesen Seiten aus den „Chronicles“ zitiert wird, die ich selbst nicht wirklich lesen möchte, das erspart mir manche Mühe, und die paar Zitate sind mir wirklich schon genug!

    Beim Thema „Charisma“ komme ich nicht um eine prägende Erinnerung aus meiner Studienzeit an der Universität Heidelberg herum, die ich hier gerne wiedergeben möchte: Im Sommersemester 2001 (ungefähr) besuchte ich freiwillig, d.h. ohne den „Schein“ zu benötigen, ein Hauptseminar am Soziologischen Institut zum Thema „Herrschaftssoziologie“. Als Nichtsoziologe hatte ich so meine Schwierigkeiten, dem Stoff zu folgen und stellte bald fest, dass es lustiger sein würde, mich auf das zu konzentrieren, was eigentlich nebensächlich war (oder schien?), zum Beispiel auf die Frage der ‚Kleiderordnung‘: Mir fiel nämlich hier zum ersten Mal auf, und ich habe meine diesbezüglichen Studien in der Folgezeit intensiviert, dass alle Soziologen (und damit meine ich wirklich alle!) schwarze Pullover, dazu dunkle Hosen und (bei entsprechend hohen akademischen Graden) zusätzlich dunkle Sakkos / Kostüme trugen (während alle Juristen einen Halsschal trugen und alle Musikwissenschaftler geringelte Socken) …

    Weiterhin bemerkte ich an meinem Dozenten, Herrn Dr. Maurizio Bach (heute Soziologie-Professor in Passau), einen erstaunlichen rhetorischen Kniff, der in einer dreifachen Bejahung mit anschließender dreifacher Verneinung (oder umgekehrt) bestand; wann immer ein Student oder eine Studentin das Wort erhob, um Verständnis oder Mißverständnis der Weber’schen Thesen bzw. ‚Meinung‘ zum Ausdruck zu bringen, antwortete Dr. Bach zunächst mit: „Ja, ja, ja! … Nein, nein, nein!“ (oder mit: „Nein, nein, nein! … Ja, ja, ja!“). Das war sehr beeindruckend, weil man sich zugleich vollkommen verstanden und unverstanden fühlen konnte, bestätigt und widerlegt, gleichzeitig im richtigen und im „falschen Film“ (wie man damals sagte), wenn nicht gar zugleich – und ganz im Widerspruch zum Adorno’schen (und jetzt auch Kummermehr’schen) Diktum – im „wahren“ („echten“, „authentischen“ ) und im „falschen“ Leben (respektive: „Komödiantenstadl“)!

    Besagter Dozent Bach jedenfalls lehrte uns etwas, das mich an dieser Stelle nolens volens zum advocatus diaboli der Frau Gloria Beck macht, die zumindest in einem Punkt dem ‚Phänomen‘ und „schillernden Begriff“ (Gerald Petersen) des Charismas näher zu kommen scheint, als es Ihnen, lieber Jens, in Ihrem Beitrag – jedenfalls nach meiner Lesart – gelungen ist: Indem sie nämlich darauf hinweist, dass „Charisma“ in erster und wesentlicher Hinsicht eine ZUGESCHRIEBENE Eigenschaft ist, also v.a. einen sozialen Zusammenhang bezeichnet und nicht eine persönliche Qualität; zumindest lässt sich diese Qualität (so Weber, wie wir gleich sehen werden) nicht leichthin objektivieren und damit gleichsam ‚vermarktbar‘ und ohne weiteres ‚trainierbar‘ machen. Obacht also: Wer ein „Charisma“-Seminar buchen will, sollte sich genau informieren, auf welche Scharlatanerie er sich da einlässt!

    „»Charisma« soll eine als außeralltäglich […] geltende Qualität einer Persönlichkeit heißen, um derentwillen sie als mit übernatürlichen oder übermenschlichen oder mindestens spezifisch außeralltäglichen, nicht jedem andern zugänglichen Kräften oder Eigenschaften oder als gottgesandt oder als vorbildlich und deshalb als »Führer« GEWERTET [meine Hervorhebung] wird. Wie die betreffende Qualität von irgendeinem ethischen, ästhetischen oder sonstigen Standpunkt aus »objektiv« richtig zu bewerten sein würde, ist natürlich dabei begrifflich völlig gleichgültig: darauf allein, wie sie tatsächlich von den charismatisch Beherrschten, den »Anhängern«, BEWERTET [meine Hervorhebung] wird, kommt es an.“

    Und dann erfahren wir auch noch, dass „Charisma“ und Wirtschaft sich nicht wirklich gut vertragen. seien Sie also doppelt gewarnt:

    „Reines Charisma ist spezifisch wirtschaftsfremd. Es konstituiert, wo es auftritt, einen »Beruf« im emphatischen Sinn des Worts: als »Sendung« oder innere »Aufgabe«. Es verschmäht und verwirft, im reinen Typus, die ökonomische Verwertung der Gnadengaben als Einkommensquelle, – was freilich oft mehr Anforderung als Tatsache bleibt. Nicht etwa, daß das Charisma immer auf Besitz und Erwerb verzichtete, wie das unter Umständen (s. gleich) Propheten und ihre Jünger tun. Der Kriegsheld und seine Gefolgschaft suchen Beute, der plebiszitäre Herrscher oder charismatische Parteiführer materielle Mittel ihrer Macht, der erstere außerdem: materiellen Glanz seiner Herrschaft zur Festigung seines Herrenprestiges. Was sie alle verschmähen – solange der genuin charismatische Typus besteht – ist: die traditionale oder rationale Alltagswirtschaft, die Erzielung von regulären »Einnahmen« durch eine darauf gerichtete kontinuierliche wirtschaftliche Tätigkeit. Mäzenatische – großmäzenatische (Schenkung, Stiftung, Bestechung, Großtrinkgelder) – oder: bettelmäßige Versorgung auf der einen, Beute, gewaltsame oder (formal) friedliche Erpressung auf der anderen Seite sind die typischen Formen der charismatischen Bedarfsdeckung. Sie ist, von einer rationalen Wirtschaft her gesehen, eine typische Macht der »Unwirtschaftlichkeit«. Denn sie lehnt jede Verflechtung in den Alltag ab. Sie kann nur, in voller innerer Indifferenz, unsteten Gelegenheitserwerb sozusagen »mitnehmen«. »Rentnertum« als Form der Wirtschaftsenthobenheit kann – für manche Arten – die wirtschaftliche Grundlage charismatischer Existenzen sein. Aber für die normalen charismatischen »Revolutionäre« pflegt das nicht zu gelten.“

    Quelle: Max Weber (1922): Wirtschaft und Gesellschaft. Grundriß der verstehenden Soziologie, Erster Teil: Die Wirtschaft und die gesellschaftlichen Ordnungen und Mächte, Kapitel III. Die Typen der Herrschaft, § 10. Merkmale der charismatischen Herrschaft
    http://www.textlog.de/7415.html

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